Allenthalben wird sie benannt, beklagt und beschworen: Die tiefe, grundsätzliche Krise unseres Bildungssystems. Von vielen Seiten werden laut die unterschiedlichsten Lösungsvorschläge angeboten: Mehr Digitales, mehr Mitbestimmung, mehr Differenzierung, weniger Hierarchie, weniger Fächer, weniger Lehrer, das her, das weg! Viele meinungsstarke Persönlichkeiten sind überzeugt, die Lösung parat zu haben und verkünden sie in großer Geste, indes: Wird in der Gesamtheit dieses manchmal leisen und oft lauten Diskurses nicht umso deutlicher, dass eigentlich eine tiefe Ratlosigkeit herrscht?
Auch ich bemerke in den nun gut anderthalb Jahrzehnten meiner Lehrtätigkeit, wie sich meine Schülerschaft entwickelt. Arbeiten, die ich vor Jahren noch für 45 Minuten konzipiert habe, benötigen jetzt im Durchschnitt 60. Wenn ich neue Sprachthemen behandle, plane ich jetzt oft keine Einzel- sondern eine Doppelstunde dafür ein. Gleichzeitig scheinen immer mehr Schülerinnen und Schüler sehr schnell oder sogar dauerhaft an ihre Belastungsgrenze zu geraten. Und gerade seit den Schulschließungen haben, so scheint es mir, diese Effekte noch zugenommen. Die Leistungsfähigkeit sinkt, das Bedürfnis, seine Wasserflasche aufzufüllen, nimmt exponentiell zu.
Die Menschen, die oft daran gewöhnt sind, dass sich ihnen Informationen auf möglichst eindringliche und einfache Weise auf kleinen Bildschirmen präsentieren, sind gleichzeitig über- und unterfordert, wenn sie einen längeren Text lesen und verstehen sollen.
Was also tun? Die kleinen Bildschirme verbieten, wie es Jonathan Haidt in Amerika fordert? Mit dem eigenen Unterricht auf TikTok umziehen? Irgendwas dazwischen?
In einem Blogbeitrag von Jonas Wagner lese ich, dass es nicht die eine große Bildungsrevolution geben muss, sondern 800.000: „Jeder hat es in der Hand, die Veränderung zu gestalten“, wird dort der „Netzlehrer“ zitiert.
Ich stimme einerseits zu. Unser Beruf bietet uns viele Freiheiten, in denen wir neue Ideen ausprobieren können und sollten. Im Grunde genommen ist es doch unser Kerngeschäft, uns immer wieder auf unsere Lerngruppe(n) einzustellen und das didaktische Dreieck aus „Lehrkraft“, „Lernende“ und „Sache“ beständig neu auszurichten.
Andererseits sehe ich auch Parallelen, die Widerstand bei mir auslösen, z.B. zum Umgang mit der Energie- und Klimawende. Dort spielen die großen Verbraucher und Verursacher doch ebenso geschickt diese Karte an jeden einzelnen Konsumenten zurück: Du kannst doch biologisch & recyclebar einkaufen – wenn alle mitmachen, dann rettet ihr die Ozeane! Du kannst doch Solarzellen installieren und eine Wärmepumpe kaufen – wenn alle das tun, rettet ihr die Welt! (Und wenn nicht: Es ist eure Verantwortung!)
Das stellt eine fatale Verkürzung und Verzerrung der möglichen Handlungsspielräume dar, die auf höherer Ebene reguliert und nicht durch die Hände Einzelner korrigiert werden muss. Mich erinnert es an den klassischen Kirchentagsspruch „Viele kleine Menschen an vielen kleinen Orten werden das Antlitz der Welt verändern.“ Natürlich tun sie das, auch jetzt schon. Die Frage ist doch aber, ob das in einer sinnvollen und koordinierten Weise geschieht.
In gewisser Weise ist die Diskussion über die Bildungslandschaft, die ich verfolge, paradox: Seit einiger Zeit steht der Schüler unbestritten im Mittelpunkt der Orientierung, im Zentrum des didaktischen Dreiecks. Obwohl er aber im Mittelpunkt steht, ist er auch axiomatisch gesetzt – Lehrkraft und Sache haben sich möglichst differenziert und professionell an den einzelnen Lernenden anzupassen. Der Schüler selbst ist eben so, wie er ist. Er ist kein Profi. Es ist unsere Aufgabe als Lehrer, ihn zu motivieren, zu gewinnen, zu begeistern. Wenn es nicht klappt, liegt das in der Verantwortung der Lehrkraft.
Zuletzt hat diese Sichtweise noch eine zusätzliche Verschärfung erfahren: Wenn der Schüler sich partout nicht für eine Sache interessiert, dann sollten wir die Sache eben ausmustern. Sie ist dann nicht mehr zeitgemäß. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt und der Berg nicht zum Prophet, dann lassen wir doch den Propheten selbst entscheiden, wo er hin will. Berge sind doch nicht mehr zeitgemäß.
Mir kommt – nicht ganz deckungsgleich, aber ungleich lustiger – ein Spruch in den Sinn, den ich irgendwo bei Terry Pratchett gelesen habe. Er lautet ungefähr so: „Manche sagen, das Glas ist halb voll, manche, es sei halb leer. Die Welt gehört aber denen, die sagen: Das ist nicht mein Glas. Meins war voll – und größer.“
Was mir fehlt, wenn wir über das Ziel unseres Bildungssystems, über Schülerorientierung oder Revolutionen und all das reden:
Welches Menschenbild haben wir eigentlich? Ist es seine Aufgabe, seine Grenzen stetig zu erweitern, um sein volles Potenzial zu entfalten? Soll er in der kurzen Zeit seines Lebens einfach soviel Spaß wie möglich haben? Hat jeder Mensch immer Lust, alles zu lernen und wird nur daran gehindert? Sind wir alle gleich oder total unterschiedlich? Ich höre hier mit den Fragen auf, von denen noch viele mehr einer Diskussion harren.
Das ist sicher eine sehr grundsätzliche philosophische Überlegung und keine, die zu einem Ende kommen kann. Ich habe aber den Eindruck, dass unsere Vorstellungen darüber, was der Mensch ist und soll, im Moment besonders stark auseinandergehen. Und solange darüber gar nicht nachgedacht und dann diskutiert wird, noch wenigstens eine mehrheitliche Einigkeit besteht, nützen weder kleine noch große Revolutionen irgendetwas.
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